9 - Einweisung

9-1

Erna hatte bereits im Frühjahr 1942 angefangen, sich dem Einerlei der Arbeit auf dem Hof zu verweigern. Sie benötigte für sich dringend eine "Auszeit". Sie war eines Morgens nicht mehr pünktlich aufgestanden, blieb einfach im Bett liegen, nörgelte über ihr Schicksal lauthals mit der Mutter, drohte und schimpfte. Aber Mama Anna hatte das dann wieder "in den Griff" bekommen.


Der Storm-Biograph Jochen Missfeldt erwähnt in seiner Biographie: "Du graue Stadt am Meer | Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert", Hanser-Verlag 2013, auf Seite 239 über die "Frauen im 19. Jahrhundert": "Wer das Bett hütet, nimmt sich eine Auszeit und ist aus der Schusslinie. ... für die Frauen im 19. Jahrhundert [ist] das Bett ein Allzweck-Notaufnahmelager, das die Gesellschaft auch als ein solches begreift und stillschweigend anerkennt." 
- Hier wird also die Zeit ca. 80 - 100 Jahre vor Erna Kronshage skizziert - die "Auszeit" in einer ehedem gehobeneren Ober- bzw. Mittelstandsschicht: Eine solch allseits akzeptierte gesellschaftlich hingenommene Konvention hatte sich jedoch ein ganzes Jahrhundert später von Husum nach Senne II leider nicht herumgesprochen und durchsetzen können - erst recht wurde ein solches Verhalten vom nationalsozialistischen "Zeitgeist" nicht hingenommen ... 
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Erna hielt sich in jenen Tagen abends - nach "Feierabend" - oft bei einer Nachbarin auf, die allein einen Säugling zu versorgen hatte, da der Ehemann und Vater des Babys Soldat war. Inwieweit diese Besuche durch gegenseitiges Beeinflussen bei Erna diese Unzufriedenheiten, diesen Zorn und dieses Hadern mit ihrem Schicksal mit ausgelöst haben können und vielleicht Sehnsüchte geweckt haben, kann nur vermutet werden.

9-2

Nun, im Oktober 1942, trat dieser Zorn Ernas jedoch wieder stärker zutage. Diese zermürbende Eintönigkeit der landwirtschaftlichen Arbeit und die beständige Überforderung und der ewig gleiche Trott hatten ihre Kräfte nun vollends aufgezehrt...

Hinzu kam diese latente Angst, das Leben zu versäumen oder konkret ebenso plötzlich wie vor zwei Jahren die Nachbarin Ida G. Opfer eines Bombenangriffs zu werden. Und der Bombenangriff an sich - und die ausgemergelten russischen Kriegsgefangenen aus dem Lager in Stukenbrock oder gar die abgelegten Leichen aus den Gefangenentransporten neben den Schienen - als einschneidende Traumata in unmittelbar bedrohlicher Nähe - dazu die ständige Angst um ihre Brüder, die an der Ostfront kämpften - das alles konnte noch längst nicht verarbeitet werden und kam in den Träumen zurück - und quälte.

Die Sirenen heulten ja inzwischen immer öfter tatsächlichen Fliegeralarm – und bei den nahgelegenen Raba-Werken schoss dann die Flak. Nachts, wenn englische Bomberverbände Angriffe auf Bielefeld oder Gütersloh oder Paderborn flogen, dann kroch diese Angst hoch, dann fand Erna keinen Schlaf mehr. 

Erna konnte und wollte nicht mehr, sie sehnte sich nach innerer Ruhe, nach der Fröhlichkeit und Ausgeglichenheit von früher, wenn sie mit ihren Freundinnen witzelte, wenn sie tanzte nach den Melodien der Akkordeon spielenden Brüder Willi und Ewald - und nach inneren Frieden – mit ihrer Umwelt und mit sich selbst. Sie sehnte sich nach Sicherheit, Geborgenheit - und Liebe. 


9-3


Ich glaube, dass viel mehr Menschen ganz bewusst verrückt werden, 
als man annimmt. Es trifft auf gewisse Arten des Wahnsinns bestimmt
nicht zu, aber es gibt Formen mit einem schleichenden Übergang, 
wo es zu einer solchen Entscheidung kommen kann.

formuliert der Schriftsteller Frank Witzel 2015

Was in Erna tatsächlich damals vorging, können wir nicht wissen. Sie sagte später in der Erbgesundheitsgerichts-Verhandlung zur Zwangssterilisation, sie habe oftmals 
- im Tagtraum - wie in einem "Déjà-vu" - "ihre Kameradinnen gesehen" - die zum Teil in Brackwede oder Bielefeld eine Ausbildung absolvierten oder arbeiteten - und die sie täglich traf, wenn die ihre Fahrräder abstellten oder abholten, um mit dem Zug zu pendeln (siehe hier ...) - das sei so gekommen und dann wieder vergangen - aber kam bestimmt als Sehnsucht - als Neid auf so viel Mobilität und ihrer Gebundenheit. Sie schlief schlecht - und war todmüde, wenn morgens die Arbeit begann. Sie wachte nachts im kalten Schweiß auf und zitterte - und lauschte auf die Sirenen des nächsten Angriffs. Sie widersetzte sich morgens dem Wecken - und den Anweisungen der Mutter konnte und wollte sie nicht mehr Folge leisten. Sie fuchtelte wohl sogar einmal "widerspenstig" und jähzornig mit dem Messer herum, als Mama Anna sie aufforderte, "moll nen birtken tengern to maken"Sie konnte keine Tätigkeitsabläufe mehr kontinuierlich zu Ende führen, sondern unterbrach sie mehrfach - oder brach sie ganz ab. Sie beschimpfte ihre Eltern, sie seien mitschuld an ihrer Unzufriedenheit - ...

Und vielleicht könne man ihr ja mit einer "Auszeit" helfen, wie drei Jahre zuvor ihrer Schwester Frieda, die in der Provinzialheilanstalt Gütersloh vier Wochen lang nach Überweisung aus dem Städtischen Krankenhaus wegen eines unspezifischen psychischen "Erregungszustandes" mit umfassendem Erfolg behandelt wurde und "zur Ruhe kam" - ohne irgendwelche "erbgesundheitlichen" Konsequenzen daraus. 

Sie äußerte auch den Wunsch, nicht mehr zu Hause zu bleiben - und endlich "unter intelligenten Menschen zu gehen" ...

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9-4


Damals wendet sich Ernas Mutter an diese Gemeindefürsorgerin, die als „weibliche Elitetruppe der NSDAP“ vor Ort die jeweiligen Situationen mit ihren Kenntnissen in Erb- und Rassenpflege beurteilen sollen, um „Verhaltensabnormitäten“ weiterzumelden… 

Und diese dienstbeflissene „Braune Schwester“ sieht in den eigenmächtigen Bummeleien Ernas tatsächlich echte „Verhaltensabnormitäten“, denn der Hof hatte jetzt im Krieg der „Sicherung der Ernährung des deutschen Volkes“ zu dienen, und nur Ernas unverbrüchliche Mitarbeit dort rechtfertigten schließlich ihre Freistellung von anderen NS-Dienstverpflichtungen… 





"Helfen und Vernichten" Die Soziale Arbeit und die Krankenmorde im Nationalsozialismus

In diesem Film wird die Rolle der Sozialen Arbeit bei den Krankenmorden ("Euthanasie") im Nationalsozialismus beschrieben, aus Sicht der „Volkspflegerinnen“ und ihrer Lehrerinnen und auch aus der Perspektive verfolgter Personen.




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9-5

Erna Kronshage wird deshalb zu einer Amtsärztlichen Untersuchung zitiert, bei der sie dann aber sogar selbst darum bittet, in die Provinzialheilanstalt Gütersloh aufgenommen zu werden – weil sie von ihrer Schwester Frieda bereits dazu angestachelt wurde, die dort 3 Jahre zuvor nach einem "Erregungszustand" in nur 4 Wochen erfolgreich wiederhergestellt wurde, ohne irgendwelche erbgesundheitlichen Konsequenzen.

Erna erwartet sich eine ebensolche Hilfe um die Eltern nicht weiter zu enttäuschen und wieder „fit“ zu werden… 

Ob Erna direkt vom Amtsarzt für Bielefeld-Land zu jener Zeit, Dr. Alfred Rainer, selbst untersucht wurde, oder ob es eine "Amtsärztliche Ambulanz" mit wechselnder Besetzung gab, muss noch geklärt werden.



Dieser Eintrag zum "Reichsnährstand" ist wichtig für das Verständnis von Ernas Opferbiografie.

Erna war ja als "Haustochter" im elterlichen Groß-Haushalt angestellt. Da die Brüder eingezogen wurden zum Kriegs-Fronteinsatz und die Schwestern nach und nach heirateten und ihre eigene Familie betreuten, blieb sie als Jüngste allein zurück auf dem landwirtschaftlich bewirtschafteten Hof, um ihren Eltern bei der täglichen Arbeit zu helfen.

Die Bewirtschaftung eines solchen Hofes war nun aber in Kriegszeiten kein Selbstzweck - sondern die Zugehörigkeiten zum "Reichsnährstand" verpflichteten die einzelnen Höfen zu bestimmten Erträgen und Erzeugnissen.

Dazu gab es wohl auch  - vielleicht nach der Entmachtung des "Reichs-Bauernführers" Richard Walther Darrés - jetzt im Krieg eine verbindliche und verpflichtende NS-Kampagne zur "Sicherung der Ernährung des Deutschen Volkes" ... - weshalb für diese plötzliche "Burn-out"-Arbeitsverweigerung Ernas überhaupt kein Platz war - und da es ja keinen "Gelben Schein" wie heutzutage als ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gab - musste Ernas Bummelei der Gemeindefürsorgerin von der NS-Schwesternschaft, der "Braunen Schwester" "gemeldet" werden. 

Diese Schwestern waren jung und ehrgeizig und in Eugenik und Rassenlehre "top" ausgebildet - und hatten in jeder Gemeinde, wo sie das Sagen hatten, die Oberaufsicht über Recht & Ordnung im Ort in  "sozialpädagogischer" Hinsicht. 

Und das wurde Erna Kronshage ja letztlich mit zum Verhängnis ...

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9-6

Dieser zunächst verwirrend und naiv anmutende Aufnahmewunsch Ernas in die von ihr wahrscheinlich wörtlich so verstandene „Heil-Anstalt“ in Gütersloh ist den guten Erfahrungen der Schwester Frieda dort geschuldet - und im Sinne der „Selbsterhaltung“ ja sogar als „vernünftig“ und „gesund“ zu bewerten: Erna wirkt aktiv mit und übernimmt Verantwortung für sich… 

Sie will jetzt „Nägel mit Köpfen“ machen und auch ohne Zustimmung ihrer Eltern dort eine Behandlung durchsetzen – was ihr auch gelingt, indem sie die Einweisungspapiere dem Vater abschwatzt, der ja immer noch das Sorgerecht innehat, und sie kurzum einem Polizeibeamten in einem parkenden Streifenwagen übergibt.

Durch die dann hinzugerufene „Braune Schwester“ wird einvernehmlich dafür gesorgt, dass sie, an den Eltern vorbei, aufgrund ihrer Minderjährigkeit nun als „gemeingefährliche Kranke“ der Anstalt polizeilich zugeführt wird. 

Ausriss aus dem Einspruch des Vaters vom 24. Februar 1943
Ausriss aus dem Einspruch des Vaters vom 21.April 1943
9-7

Die tatsächliche Einweisung erfolgte auf alle Fälle am Samstag (!), dem 24.10.1942 ...

Erna sucht die Loslösung und Freiheit von Bevormundung und engem Zuhause - gerät aber stattdessen auf die "schiefe Ebene" der NS-"Psychiatrie", auf der es kein Halten mehr gibt ...

Dieses eigenartige Verhalten Ernas, fast "wie eine Motte ins Licht zu fliegen", so fast freiwillig und irgendwo auch gewünscht - doch auch widerwillig - aber ohne Gegenwehr und selbstständig ins "Verderben" zu rennen, diese Ambivalenz und Paradoxie in ihrem Tun, die wir ja auch schon im beschriebenen grundlegenden Moraldilemma haben mitschwingen sehen ("ich will am liebsten gehen - aber ich muss ja bleiben") - lag aber wohl auch am ambivalenten Zeitgeist durch Krieg und Nationalsozialismus - an der inneren Gefühlsverwirrung: der Krieg außen war auch ein Krieg innen. 

Erna Kronshage strampelte wie der Hamster im Rad - und kam nicht weiter ... - sie sah keine Perspektive für sich - und - das war wahrscheinlich ihre Hoffnung - die "Studierten", die Ärzte, die so hochgelobten "modernen Wissenschaften" in all dem neuen herrschenden von der NS-Propaganda apostrophierten "modernen Zeitgeist" könnten ihr mit einer entsprechenden "Auszeit", in der sie zunächst einmal "Erholung" und "Entspannung" suchte, darüberhinaus sicherlich eine neue Lebensperspektive bieten, sie in eine ihr adäquate Zukunft weisen ... 

Die tödliche Verstrickung der NS-Psychiatrie mit den über 70.000 T4-"Euthanasie"-Morden der ersten Welle von 1940-1941 waren Erna überhaupt nicht in irgendeiner Weise als Gefahren für ihr Leib und Leben bewusst - die letztlich tödliche Verbindung der NS-Psychiatrie zur Provinzial-Heilanstalt Gütersloh wurde von ihr nicht gezogen - und die diesbezüglichen Gerüchte, die von den Eltern und den Fahrradparkern hinter vorgehaltener Hand geschürt wurden, waren für Erna wahrscheinlich "dummes Gerede" ...


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Die Vermutung liegt nahe, dass sich Erna Kronshage auf dem elterlichen Hof mit dem täglichen Einerlei in den alltäglichen körperlichen Überforderungen - und gleichzeitig den allgemeinen intellektuellen Unterforderungen - aber auch in dem Ausbleiben einer altersgemäß angemessenen Erlebniswelt - regelrecht "gefangen" vorkam - an Haus und die 43 und 46 Jahre älteren Eltern "gefesselt" - und die Situation dieser inneren Spannungen machten sie einfach "arbeitsunfähig" - wie wir es heute nennen würden - sie suchte ganz gezielt eine Legitimation - den nötigen "Gelben Schein" - wie man heute sagen würde ... 
Sie stand jetzt als einzig "übriggebliebenes" Kind in dem ehemals elf Kinder umfassenden Großfamilienhaushalt - und eigentlich befand sie sich in einem Alter der allmählichen endgültigen Abnabelung und Loslösung - stattdessen jedoch bewegte sie sich unausweichlich mitten im Focus eines sicherlich gut gemeinten aber letztlich doch über-behütenden und einengend abschottenden "Schutzschirms", den ihr diese Restfamilie unbewusst überstülpte, der neben allem äußeren Verniedlichungs-Vokabular (in Plattdeutsch: "Ernken - use Lüttste - use Püngelken" ...) nur zumeist in praktischen "Kurz-um"-Anweisungen und Routine-Aufträgen ohne jede angemessene zwischenmenschliche und der Persönlichkeitsentwicklung dienende Sensibilität und Kommunikation gelebt wurde, auch um ihr "keine Flausen ins Ohr" zu setzen. 
Hier war es besonders so auch die Mutter - die gleichzeitig als "Arbeitgeberin" und "Chefin" auf Erna und ihre jederzeit abrufbare und funktionierende Arbeitsleistung existenziell angewiesen war - und auch die von "Amts wegen" erteilten Freistellungen Ernas von NS-und BDM-Dienstverpflichtungen als mitarbeitende "Haustochter" auf einem Hof, der der „Sicherung der Ernährung des deutschen Volkes“ zu genügen hatte, auch rechtfertigen musste...- z.B. gegenüber der kontrollierenden Gemeindefürsorgerin, die gerade in solchen Unregelmäßigkeiten Handlungsbedarf hineininterpretierte. 
Wiederum war Mutter Anna auch 43 Jahre älter als Erna - und konnte mit der damals heranwachsenden Jugendgeneration und deren eigentlichen Wünschen und Träumen so gar nichts anfangen - in diesen lausigen nationalsozialistischen Zeiten inmitten eines entfesselten Krieges erst recht nicht - und die dazu große Verlustängste auch um ihre Söhne an der Front hatte - und nun wie eine Glucke auf die Jüngste achtete - für diese Gesamtsituation gab es ja keine Verhalten-Vorlagen oder Blaupausen ...
Erna Kronshage wollte ausbrechen aus diesem Dilemma ... sie suchte eine dringend benötigte "Auszeit" - und fand letztlich den Tod ...
Heutzutage - ca. 75 Jahre später - ist  es für heranwachsende Jugendliche völlig normal, eine Zeit "für sich" zu haben, um zu "chillen", herumzuhängen, abzuhängen, mit Gleichaltrigen eine "Clique" zu bilden, Übernachtungsbesuche zu machen und zu haben - und Partner kennenzulernen - um soziale Kontakte zu knüpfen - einfach um im Wechsel mit dem alltäglichen "Schul- und Ausbildungsstress" zur Ruhe zu kommen und einen Ausgleich zu haben - um "Leben" zu lernen... Und diese Zeit wird als völlig legitim zugestanden - und die Eltern richten dafür entsprechende "Wohnlandschaften" ein - im ehemaligen Kinderzimmer ... - all diese Aspekte standen jedoch damals außerhalb einer "seriösen" und "gesunden" Erziehung zur Selbsbewusstheit und Entwicklung ...  (siehe auch hier - Die zugewiesene Rolle der Frau ...

 
Eine Info-Grafik "Zwang in der Psychiatrie" der ZEIT vom 26.07.2018 beschreibt die Psychiatrie-Einweisungs-Situation heutzutage - also gut 75 Jahre nach der "freiwilligen" polizeilichen Einweisung Erna Kronshages in die Provinzialheilanstalt Gütersloh - interessant dabei ist auch die jeweilige "Aufenthaltsdauer" je nach Störung heutzutage: (click on the picture)

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Erna Kronshage kommt also am 24.10.1942 in der Provinzialheilanstalt Gütersloh an.
















Fotos: NSV-Brosche der "Braunen Schwestern" - Polizeiposten um 1940 - Postkarte: Verwaltungsgebäude der Provinzialheilanstalt Gütersloh, um 1940  - Frauenabteilungen (alle Fotos privat) - Anstaltsbett um 1940



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