6 - Innere Vereinsamung & Doppelbotschaften










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Ein moralisch-ethisches Dilemma kann abstrakt wie folgt formuliert werden:

  (I) Es ist geboten, a zu tun,
 (II) Es ist geboten, b zu tun,
(III) Ich kann aber nicht zu-gleich a und b tun.

Übersetzt auf den "Fall" Erna Kronshage hieß dieses moralische ethische Dilemma:
(i) Es ist geboten, die Eltern in ihrer lebensnotwendigen Arbeit nicht allein zu lassen,
(ii) Es ist geboten, mich zu lösen, selbstständig zu werden, auf eigenen Beinen zu stehen,
(iii) Ich kann aber nicht bei den Eltern bleiben - und gleichzeitig selbstständig werden.

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Der Mühlenkamp diente der dreizehnköpfigen Familie Kronshage als Wohnstätte und Heimat. Unschwer sich vorzustellen welch ein Leben hier ursprünglich pulsierte - und dann noch mit den Schul- und Berufspendlern, die ihre Fahrräder hier täglich abstellten und "bewachen" ließen - und die auch "quatschten" und tratschten - über Gott und die Welt.


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Dieses Gesamtunternehmen wurde von der "Mama" Anna Kronshage selbstbewusst und kompetent geführt. Intern, in ihrer Familie, aber auch nach außen, war sie das eigentliche Familienoberhaupt, die Henne auf dem Nest. Mama Anna war eine damals schon deutlich als „emanzipiert“ zu bezeichnende Frau, eine Unternehmerin und Managerin. Die es verstand, den Laden beieinander zu halten, sparsam zu wirtschaften, die elf Kinder heranzuziehen und zu erziehen, sie zur Selbstständigkeit zu führen, das Vieh zu versorgen, das Vieh und die landwirtschaftlichen Erzeugnisse einzukaufen und zu verkaufen, das Fahrradparkhaus für die Berufspendler zu managen, sich durchzusetzen, aber auch noch den kränkelnden Ehemann angemessen zu umsorgen, wenn es denn sein musste. Bis ins Alter von 76 Jahren hat sie diesen Job ohne jeden Urlaub, ohne jede Unterbrechung, ohne große Erkrankungen, über fünfzig Jahre hin ausüben können. Uns wurde sie als dankbarer, fröhlicher, manchmal regelrecht verspielter, und wenn es sein musste aber auch als ein äußerst energischer und manchmal etwas ungehaltener und jähzorniger Mensch geschildert.


 
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Im Laufe der Zeit allerdings leerte sich das Mühlenkamp-Gehöft in Senne II nach und nach. Die Schwestern und Brüder Ernas gingen nach und nach aus dem Haus und waren meist in der näheren und weiteren Umgebung verheiratet. Die beiden jüngeren Brüder wurden zum Arbeitsdienst oder zum Militär eingezogen. 

Ehe sich "Mama" Anna versah, war sie mit ihrem asthmakranken Ehemann und mit ihrer Jüngsten als "Haustochter", dem „Ernchen“, zu Dritt - in diesem wohl fast 300 Jahre alten Bauernhaus, mit seiner Deele und den vielen kleinen Zimmern, dem Vieh in den Ställen, fast alles unter einem Dach. Und gleichzeitig mit diesem allmählichen bis abrupten Exodus gingen die helfenden Hände verloren. 

Die Arbeit an dem Gesamtprojekt lastete nun meist ganz allein auf ihren Schultern. Erna war für eine solch stete harte Arbeit eigentlich noch viel zu jung und von ihrer Konstitution her viel zu zart – und von ihrer Entwicklungsphase her hätte sie nun auch eigentlich ermuntert werden können, das Elternhaus für eine Ausbildung zu verlassen und sich zumindest in der Nachbarschaft umzuschauen und Lebenserfahrungen zu sammeln.

Wenn jetzt auch noch das Ernchen "flügge" werden wollte und man ihrem deutlich zu vernehmenden Wunsch nachgekommen wäre, das Elternhaus für eine Ausbildung in einer der nah gelegenen Städte (Bielefeld, Paderborn) zu verlassen, um unter „intelligenten Menschen“ zu leben (so hat es Erna später in den Verhandlungen vor dem Erbgesundheitsgericht wegen ihrer Zwangssterilisation ausgedrückt !), dann wäre das existenziell für Haus und Hof und die Restfamilie kaum zu verkraften gewesen. Also musste Erna bleiben, und koste es was es wolle, mit allen Mitteln auch „gehalten“ werden.


Gegenüber Dritten und den anderen Kindern wurde Ernchen im Zuge dieser Entwicklung von Mama Anna und auch von Papa Adolf öfter als sehr zart und viel zu klein und zu jung und zu schwach und als äußerst schutzbedürftig deklariert. Obwohl sie tagsüber zu schweren und schwersten Arbeiten und Verrichtungen angehalten wurde, konnte man in der Wortwahl und in Berichten über sie deutlich diese vorübergehende Tendenz einer „Verniedlichung“ wahrnehmen.
... Unser kleines Ernchen – sie war doch Mamas "Hauspüngelchen" – sie war doch eigentlich viel zu zart für diese schwere Arbeit – sie war ja ständig überarbeitet und völlig überfordert ...

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In dieser Gefühlsambivalenz (zwischen "überfordernder Schwerstarbeit" und "zärtlicher Verniedlichung") wurde damals und auch späterhin der Fall Erna in der Familie und in der Verwandtschaft und in der Nachbarschaft verhandelt. Diese Ambivalenz sendete ständige Doppelbotschaften aus, ständige Doublebinds:

  • Du bist jetzt erwachsen, aber du bleibst doch immer unsere Jüngste. 
  • Schau dich erst einmal in der Welt um, aber wir brauchen dich hier. 
  • Werde endlich selbstständig, aber wir lassen dich nicht gehen. 
  • Fass zu - und arbeite emsig, aber die Arbeit ist zu schwer und eintönig für dich.



Täglich wurden die Fahrräder der Berufspendler vom nah gelegenen Bahnhof Kracks behütet In der Deele des Gehöfts  - eine zusätzliche Aufgabe im Tagesablauf für Erna Kronshage

Weitere Doublebinds setzten die Umstände: Erna Kronshage "vereinsamte" als begabte lebenslustige heranwachsende Frau zusehends auf dem elterlichen Hof in dieser ursprünglichen Großfamilie, wo zusätzlich zwar täglich ca. 15 - 30 oftmals persönlich bekannte Schul- und Berufspendler ihre Fahrräder abstellten und zum Feierabend wieder abholten, aber niemand mehr die Zeit fand, sich mit ihr, der Jüngsten, tatsächlich auseinanderzusetzen: Und die Geschwister waren aus dem Haus und im Krieg an der Front. Und der Krieg und die Zeit bannten alle Aufmerksamkeit. Da war Erna kaum noch wahrnehmbar in ihrer Persönlichkeit und ihr "Reiferwerden" wurde von der Umwelt offensichtlich missachtet - sie war das Aschenputtel. Und sie spürte das - und dieser Zustand schnürte sie immer mehr zu - und machte sie zornig.



Fotos von Oben nach Unten: Der Mühlenkamp - versteckt hinter den Fichten - Mama Anna bei der "Büroarbeit" - Foto Mama Anna, ca. 1950 - Kartoffeln ausmachen, Bildquelle: DIE SENNE, Wehrmann, 1985 -  Mama Anna beim Stallausmisten (ein Sohn notierte auf die Bildrückseite: "Wie einst Blücher...") - Papa Adolf mit Kuh - Roggenernte mit Sense - Kartoffeln auslesen als typische Tätigkeit auch für Erna Kronshage - Bildquelle: DIE SENNE, Wehrmann, 1985







Doku-Film:
ARCHITEKTUR DES UNTERGANGS - 
DER NAZIWAHN
NS-"Kunst"|"Reinheit" &  "Euthanasie"|Judenvernichtung
Gesamtdauer: 1:53,43 h

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Peter Cohens Dokumentarfilm deutet mit Hilfe von bisher unbekanntem Bildmaterial die oft schon ausgewerteten, berühmten Filmdokumente aus der NS-Zeit neu. Es gelingt Cohen auf eine fast bestürzend logische Weise, die selbstmörderische Vernichtungs-Ideologie und die ungeheuerlichen Verbrechen des Nazi-Regimes aus dem Schönheitsbedürfnis seiner geistigen Führer abzuleiten. Der Untergang als die höchste Form des Erhabenen, als heroische Herausforderung. Cohen referiert dabei die historischen Ereignisse und die politischen Dokumente betont sachlich und konfrontiert und kommentiert das Unbebreifliche mit der ästethischen Simplizität, der erschreckend geistigen Dürftigkeit der pompösen künstlerischen Anstrengungen der Zeit. Es gelingt Cohen auf eine fast bestürzend logische Weise, die selbstmörderische Vernichtungs-Ideologie und die ungeheuerlichen Verbrechen des Nazi-Regimes aus dem Schönheitsbedürfnis seiner geistigen Führer abzuleiten. Der Untergang als die höchste Form des Erhabenen, als heroische Herausforderung. Cohen referiert dabei die historischen Ereignisse und die politischen Dokumente betont sachlich und konfrontiert und kommentiert das Unbebreifliche mit der ästethischen Simplizität, der erschreckend geistigen Dürftigkeit der pompösen künstlerischen Anstrengungen der Zeit.
(Quelle: Youtube.com)


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