12 - Schock auf Schock ...


MENG Jin & FANG Er, China: Zimmer mit Aussicht, 1999-2002, photo-edition 3/6 - Schlafsaal-Situation

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Eintragung im Ärztlichen Gutachten des Behandelnden Arztes zur "Unfruchtbarmachung" von Erna Kronshage über die "aktive" Heilbehandlung mit Cardiazol-Krämpfen: "Nach Cardiazolbehandlung etwas ruhiger" - und -"schon nach einmaligen Aussetzen der Behandlung wieder sofort unruhig, fast ständig in motorischer Erregung" - nachts -"lautes sinnloses Reden..., zuckt dabei mit den Händen und mit dem Kopf"...



Bildbearbeitung nach einem Foto von papilot.pl
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Der Cardiazolschock 

Besonders gefürchtet bei den Patienten war der von Ladislaus Joseph von Meduna erfundene Cardiazol- oder Metrazolschock, der unter den Psychiatern der damaligen Zeit mit in den Katalog der "aktiven" Krankenbehandlungen jener Zeit gezählt wurde, neben der Arbeitstherapie und den Insulinschocks, später den Elektroschocks. Die Patienten erlebten bei diesen Behandlungen mit synthetischem Kampfer Todesangst.

Aus einer einschlägigen Fachliteratur jener Zeit: 
"Nach der Injektion blieb die Patientin zunächst einige Minuten ruhig liegen, wurde dann innerlich etwas unruhig und bekam einige Zuckungen im Gesicht. Zum Sprechen war sie nicht zu bewegen; man hatte jedoch den Eindruck, dass sie etwas Unangenehmes erlebte. Nach ½ Stunde setzte sie sich plötzlich im Bett auf, bekam einen sehr ängstlichen Gesichtsausdruck, wollte fliehen und rief: "Mama, Mama, hilf, ich muss ersticken".

Solche Anfälle traten in den nächsten 10 Minuten noch dreimal auf. Beim zweitenmal erbrach die Patientin, obwohl sie an diesem Tag noch nichts genossen hatte - eine dünne, kotähnliche Masse. […] Eine Besserung des schizophrenen Zustandsbildes war nachher nicht zu sehen."
Die Psychiater wussten, was sie taten (oder eben auch nicht...), als sie zu dieser "aktiven" Behandlungsform griffen. Ein Assistenzarzt in Hamburg schrieb dazu: "Es handelt sich beim ... Cardiazolschock um einen reichlich brutalen somatischen Eingriff, der im wesentlichen etwas völlig Persönlichkeitsfremdes darstellt und sich somit der psychologischen Ausdeutung entzieht". Die zu behandelnde Krankheit "Schizophrenie" war rätselhaft und die Wirkungsweise der Behandlung unbekannt, aber es wurde weiter geschockt.

Eine sogenannte "frische" Schizophrenie wurde zumeist mit 10 - 12, teilweise mit bis zu 20/30 Cardiazol-Krämpfen angegangen, berichtet die zeitgenössische Literatur. Es wird eine Frequenz genannt von 2-3 Grand-mal-Krämpfen pro Woche, oder auch eine "Serie" von 4-6 rasch aufeinanderfolgenden Krampfgeschehen.

Meduna studierte zu Beginn seiner Forschungen das Gehirn und die Krankengeschichten von Schizophrenen und Epileptikern und stellte fest, dass es offenbar einen "biologische Antagonismus" zwischen diesen beiden Erkrankungen des Gehirns gibt. Meduna schloss dann daraus, dass "reine" künstlich herbeigeführten epileptische Krämpfe in der Lage sein könnten, die Schizophrenie zu "heilen".

Dann begann er verschiedene Arten von Tests mit krampfauslösenden Medikamenten an Tieren und dann an Patienten. Sein Ziel war es, vollständig kontrollierbar und reproduzierbar Krämpfe zu erreichen. Die erste Substanz, die er untersucht, in 1934 wurde Kampfer, aber die Ergebnisse waren nicht zuverlässig. Er testete auch Strychnin, Thebain, Pilocarpin und Pentilenetetrazol (auch bekannt als Metrazol oder Cardiazol), in dem er sie immer intramuskulär injizierte. Aber Medunas selbstgesteckte Ziele erreichte er nur, wenn er mit intravenösen Injektionen von Metrazol/Cardiazol experimentierte. Die Konvulsionen, die Krämpfe, erfolgten schnell und heftig, und waren dosisabhängig. Nach einer Serie von 110 Fällen konnte Meduna eine Entlastung von 50% angeben, mit bemerkenswerten Verbesserungen und sogar "dramatischen Heilungen".

Meduna teilte seine Erkenntnisse im Rahmen eines Symposiums bei Münsingen, Schweiz, im Jahre 1937 mit. Von diesem Zeitpunkt an wurden zwei Lager von Psychiatern in Bezug auf die physiologische Schocktherapie festgelegt: Diejenigen, die die Insulin-Koma-Therapie verteidigten und jene, die einzig mit Metrazol/Cardiazol die Krampfbehandlung durchführten. Metrazol/Cardiazol war billiger, viel einfacher zu bedienen und sicherer, tatsächlich Krämpfe auszulösen. Ein Insulinkoma benötigte dagegen fünf bis neun Stunden Durchführungsdauer, aber es war leicht zu kontrollieren und mit Injektionen von Glucose oder Adrenalin bei Bedarf zu stoppen. Metrazol/Cardiazol war dagegen stärker und schwer zu kontrollieren. Die Insulin-Therapie verursachte wenige Nebenwirkungen, während Metrazol/Cardiazol-Krämpfe so schwer waren, dass sie Frakturen der Wirbelsäule der Patienten verursachen konnten.



Der von Meduna angenommene Antagonismus zwischen Epilepsie und Schizophrenie konnte in den 50 er/60er Jahren wissenschaftlich nicht aufrechterhalten werden. Man meinte dann, dass die zentral ausgelösten Konvulsionen selbst das Hirn positiv entlasten würden und so dem schizophrenen Patienten Erleichterung verschaffen.

Körperliche "Schutzmaßnahmen" (Bisskeil, Fixierungen...) bei einem
ausgelösten Schock
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Dr. Klaus Dörner (*1933), Psychiater und wissenschaftlicher Buchautor, betrachtet eine generell apostrophierte heilsame Wirkungsweise der Schockwirkung als in der Wissenschaft unbekannt. Man spreche mehr aus Verlegenheit z. B. von „zentral-vegetativer Umstimmung“. Von ihm wird dennoch die laienhafte Überzeugung: „Ich möchte Herrn X mal richtig von Grund auf durchschütteln, damit er endlich wieder zu sich kommt!“ nicht jede Berechtigung abgesprochen. Sie entspreche einer der ältesten psychiatrischen Erfahrungen überhaupt. Hirnorganische oder auch andere körperliche Schocks oder Fieberschübe etc. könnten u. U. eine Abschwächung oder Unterbrechung psychotischer Erlebnisweisen veranlassen. Sie würden ihnen nach Walter Ritter von Baeyer den Boden entziehen, so die Angst, die Aufmerksamkeit und den Antrieb. Dieser Effekt wird in der Psychiatrie auch Symptomwandel genannt. Dabei spielen psychoökonomische Momente und die energetische Priorität vegetativ-körperlicher Abläufe eine Rolle (Schichtenlehre, Abaissement du niveau mental nach Pierre Janet). Bereits Aristoteles wies auf das heilsame Moment der Katharsis hin. Schreckerlebnisse rufen u. U. Primitivreaktionen und psychosomatische Reaktionen hervor.

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Diese Behandlungs-Tortur entwickelte sich dann neben dem Insulin-Schock zum leichter auszulösenden Elektro-Schock (Jack Nicholson in dem Film "Einer flog übers Kuckucksnest"), der ja bis in unseren Tagen angewandt wird, wenn nun auch unter Narkose mit muskelentspannenden Medikamenten - und äußerst umstritten diskutiert wird.

"...kurz vor dem Aufprall ein Sprungtuch spannen..."

Was aber geschah damals mit den "erkrankten" Menschen während einer Cardiazol-Schockserie, wie sie Erna Kronshage wohl einige Male hat mitmachen müssen: 
Der Historiker und Psychologe Hans-Ludwig Siemen verglich 1987 in seinem Werk "Menschen blieben auf der Strecke ...", S. 156, diese Tortur mit folgendem Vorgang: 
"Man werfe einen sich abweichend verhaltenen Menschen vom Dach eines Hochhauses und lasse ihn bis zum letztmöglichen Eingriffspunkt das Sterbenserlebnis durchleiden und spanne erst kurz vor dem Aufprall ein Sprungtuch. Man preise diese Methode als Therapie an, die - wen wunderts eigentlich - eine Erlebnisqualität besitzt, die Menschen, zumindest auf Zeit, verändert." (s. dazu die ärztlichen Eintragungen in den Dokumenten zum Verhalten von Erna Kronshage).
Mit derartigen "finalen" chemisch ausgelösten Erlebnismodellen verändert sich gewiss die biochemische Verstoffwechselung im Gehirn, also die Botenstoffübertragungen in den Neurotransmittern, die natürlich dann - positiv oder negativ - Verhaltensäußerungen beeinflussen konnten.

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Der Disziplinierungsaspekt der meisten dieser Therapien, insbesondere der schmerzhaften und gefährlichen Zwangs-Schocktherapien, geht aus psychiatrischen Selbstzeugnissen hervor. 1988 sagte der Direktor der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, Benedikt Fontana, rückblickend über renitente Insassen seiner Institution:

"Wenn sie bockten, mussten wir sie schocken."
























So wirksam der disziplinarische Effekt der Schocktherapien war - nicht zuletzt weil sie bei den Patienten gefürchtet waren -, so unwirksam waren sie als Therapien.


Quellen - wenn nicht andere genannt: http://www.cerebromente.org.br/n04/historia/shock_i.htm - und - Thomas Huonker: Diagnose: «moralisch defekt»; Kastration, Sterilisation und «Rassenhygiene» im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890 –1970, Zürich 2003 - A. Ebbinghaus u.a.: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, 1984 - "Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst", 2007

Bildquellen: http://www.hetoudegesticht.com/2009/03/06/1940-1950-cardiazolkuur-cardiazolshocktherapie - http://www.ub.edu/crai/pharmakoteka/index.php (Museu de la Farmàcia Catalana) - http://cosmopolisjournalen.files.wordpress.com/






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