18 - Verwertbarkeit


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Auffällig ist im Zusammenhang mit der „Aktion Brandt“ als neue Welle einer gesteuerten Liquidierung psychisch kranker Menschen zunächst die hohe Zahl der Verlegungen im Jahr 1943.

Hatten 1941 insgesamt 541 Kranke - davon 350 Patienten im direkten Zusammenhang mit der Aktion T 4 - die Anstalt Gütersloh verlassen, sinkt die Zahl im Jahr 1942 auf "nur" 52 Verlegungen. 1943 steigt die Zahl der verlegten Patienten schlagartig auf 712 an. 649 dieser 712 Gütersloher Kranken wurden in weiter östlich gelegene Anstalten transportiert.

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quelle: LWL-Archiv


Den ersten Hinweis auf geplante Verlegungen enthielt die Abschrift des Runderlasses IVg 8958/43–5100 des Reichsministeriums des Innern  an den Regierungspräsidenten in Minden vom 11. Mai 1943:
"Betr.: Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten aus luftbedrohten Gebieten.
Z.Zt. werden in größerem Umfange Verlegungen von Geisteskranken aus luftgefährdeten Gebiete in andere Anstalten durchgeführt. Wie bisherige Erfahrungen gezeigt haben, suchen Angehörige die Verlegung von Kranken dadurch zu vermeiden, daß sie sie auch gegen ärztlichen Rat nach Hause nehmen. Nach kurzer Zeit werden dann die Kranken der Anstalt wieder übergeben.
So sehr die Entlassung von Geisteskranken aus der Anstalt erwünscht ist, sobald ihr Geisteszustand dies zuläßt, so führen doch zu frühzeitige Entlassungen gerade in luftgefährdeten Gebieten zu unerwünschten Zuständen. Der Aufenthalt geistig anbrüchiger Personen in Luftschutzräumen usw. kann sehr leicht zu Unzuträglichkeiten führen, da sie in ihrem Verhalten unberechenbar sind. Wird die Entlassung seitens der Angehörigen erst nach der Verlegung erwirkt, der Kranke also wieder in das luftgefährdete Gebiet zurückgebracht und dort nach kurzer Zeit wieder in die Anstaltsbehandlung gegeben, so ist die ganze Verlegung umsonst gewesen.
Ich ersuche daher, Geisteskranke aus luftgefährdeten Gebieten - sei es vor, sei es nach der Verlegung - nur zu entlassen, wenn sie als geheilt anzusehen sind oder mindestens zu erwarten ist, daß sie sich längere Zeit in Freiheit halten werden.[Man denke an die Eingaben vom Vater Adolf Kronshage zur baldigen Entlassung von Erna im Zuge des Zwangssterilisierungs-Verfahrens - aber nun - nach der Sterilisierung - bestand eigentlich kein gesetzlich notwendiger Grund mehr, die immer noch bestehenden Ersuchen des Vaters abzulehnen ...] - und so heißt es auch weiter:  
Gegebenenfalls ist die Entlassung zu verweigern.
Bei Geisteskranken, die aufgrund der im Einzelfall gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen (z. B. polizeiliche Einweisung wegen Gemeingefährlichkeit usw.) zwangsweise in der Anstalt zurückbehalten werden können, besteht ohne weiteres die Grundlage für die Ablehnung von Entlassungsgesuchen. In Ermangelung einer solchen Grundlage wird der Anstaltsleiter die für den Bereich der Anstalt geltenden landesrechtlichen Bestimmungen über die zwangsweise Zurückbehaltung von Geisteskranken in geschlossenen Anstalten zur Anwendung bringen müssen. Falls notwendig wird hierbei auch die Mithilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen sein."  
Reichsministerium des Inneren 
gez. i. A. Dr. [med. Fritz] Cropp
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Die konkreten Vorbereitungen für die Durchführung neuer Transporte begannen im September 1943.

Auf Anweisung des Provinzialverbandes werden alle Patienten der Provinzialheilanstalt Gütersloh dazu anhand von Melde- und Beurteilungsbögen erfasst - wobei damals schon das jeweilig abgestufte "Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" (wie heutzutage dieser Terminus apostrophiert wird) - bei der das jeweilige Leistungsvermögen der Patienten zu Einordnung und Beurteilung in eine von drei Leistungs-Gruppen führte - (ähnlich wie noch heute im SGB IX, § 136,2, wo explizit die Aufnahmekriterien in eine Werkstatt für behinderte Menschen|WfbM nach ähnlich definierten 3 Leistungsgruppen bewertet werden ...) und so ausschlaggebend war für den zumeist "finalen" Entscheid: 
  • entweder "In-der-angestammten-Einrichtung-Verbleiben" [Daumen hoch = Leben] 
  • oder aber für "Abtransport"/"Verlegung" [Daumen runter = Tod] in eine der zumeist östlich gelegenen "Evakuierungs"-Anstalten  ...
[An diesem Punkt hätten alle Beteiligten hellhörig werden können, die nach dem Krieg so ahnungslos taten, als hätten sie nichts davon gewusst oder auch nur geahnt, dass die aufnehmenden "Evakuierungs"-Anstalten in den besetzten östlichen Gebieten eigentlich als reine Abschiebungs- und Tötungsinstitutionen den dezentral abgewickelten "wilden" NS-"Euthanasie"epochen besonders auch der "Sonderaktion Brandt" dienten - denn nun wurde offensichtlich, dass sich die pure und ausgesucht zugeordnet gewollte Aufnahme aller leistungsmäßig minderbemittelten Patienten kriegs- und volkswirtschaftlich "ökonomisch" nicht plausibel rechnen ließ: Man hätte auf Dauer einen viel höheren Personalschlüssel zur Pflege und Betreuung benötigt - da ja an eine angeblich personalreduzierende "aktivierende Behandlungspflege" nach Hermann Simon, Gütersloh, mit Arbeitstherapie und Gartenkolonne bzw. Viehversorgung oder festen Leistungs- und Aufgabenzuweisungen bei einem solchen bewusst "niedergeführten" Leistungsstand gar nicht mehr zu denken war !!! - also stellte man folgerichtig diese "Reisenden" in den Aufnahmeanstalten rasch und "nachhaltig" im weitesten Sinne "ruhig"
Ein weiterer eindeutiger Gesichtspunkt für die Fortführung der "Euthanasie" auch nach 1941 war die erneute Durchführung dieser "Evakuierungs"-Transporte und des sonstigen Know Hows durch die Gekrat, der "Gemeinnützigen Krankentransport GmbH", einer Tarnorganisation der Zentrale Tiergartenstraße 4 - T 4, die bereits die Krankentransporte zwischen 1939 und 1941 für die erste Welle der NS-"Euthanasie" zentral bis aufs I-Tüpfelchen genau organisiert hatte (Stichwort: "Graue Busse")]... 

Laut Verfügung des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen - Landeshauptmann Kolbow - handelte es sich bei

Kategorie I : "um ständig pflegebedürftige, insbesondere bettlägerige, sieche, altersschwache und ähnliche Kranke"

Kategorie II : "aus sonstigen Gründen ständig arbeitsunfähige Kranke".

Kategorie III: "in Haus- und Außenarbeit einsatzfähige Kranke". Die Zuweisung zu dieser Gruppe sollte unter der Voraussetzung erfolgen, dass unter Aufsicht mit Regelmäßigkeit eine nützliche Arbeitsleistung erreicht wurde. Zu den Anstaltsbetrieben zählte seit 1943 auch das Lazarett der Wehrmacht.

Immer mehr Pflegehäuser, die eigentlich für die Unterbringung der psychisch Kranken der Anstalt vorgesehen waren, wurden von der Wehrmacht beansprucht. Neben der zunehmenden Luftgefahr war dies der handfeste Grund für die anstehenden Verlegungen. Es war in Zukunft nur noch für Patienten in der Anstalt ein Platz, die arbeitsfähig waren, d. h. die vor allem auch den Lazarettbetrieb mit aufrechterhalten konnten.


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Verordnung des Landeshauptmann Kolbow, Provinzialverband Westfalen, zur Erfassung aller Patienten in 3 Gruppen - hier an die Heilanstalt Marsberg, vom 15.06.1943. - Man kann auf dem Dokument deutlich erkennen, dass es sich um eine Durchschrift handelt. Ein gleiches Anschreiben wird die Heilanstalt Gütersloh, Direktor Dr. Hartwich, mit Sicherheit ebenfalls erhalten haben. Quelle: Archiv LWL - 
Bildquellen Akten: charite.de

Die vom Provinzialverband angeforderte Aufstellung der Patienten in drei Leistungs-Kategorien erfolgte am 09. September 1943. 178 Männer und 279 Frauen fielen in die Gruppen I und II, 338 Männer und 473 Frauen gehörten der Gruppe III an. Nach den Angaben der Anstalt (s. Korrespondenz im nächsten Abschnitt, Post) wurden zur Aufrechterhaltung der Anstaltsbetriebe aber nur 250 Männer und 350 Frauen benötigt. Damit konnten auch Patienten der Gruppe III verlegt werden - also erfolgte noch einmal eine willkürliche Selektion der nicht brauchbaren arbeitsfähigen Patienten.

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Diese Verlegungs- und damit auch die "Desinfektions"-(Tötungs-)Entscheidungen in die jeweiligen Aufnahmeanstalten waren nun nicht mehr ärztliche Einzelfall-Entscheidungen, sondern entstanden "aus der Aktenlage", dem jeweilig abgestuften "Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung", und aus "zahlenarithmetischen" Überlegungen heraus ... - z.B. auch der kostengünstigen Auslastung der Transportzüge der Reichsbahn durch die GEKRAT usw. usf. ... 
"Die Zeit der ärztlichen Planungsamateure war abgelaufen" (Aly). Jetzt hatten die Leiter der Wirtschaftsabteilungen die Fäden in der Hand und gaben sämtlichen ökonomischen Fragen den Vorrang." (Mäckel, Dissertation: Prof. Fr. Nitsche, S.96). 

Die Verrechnungsbeamten entschieden nun allein aufgrund der festgestellten Arbeitsfähigkeitsdaten und aufgrund der benötigten Lazarettbettenzahlen. Das geschah am Schreibtisch - vor Ort - und ggf. noch mit dem Abteilungsarzt der abgebenden Anstaltsstation, der aber grundsätzlich aus rein ökonomischen statt aus medizinischen Gesichtspunkten entschied - und wurde aus den Abteilungen der alten Seilschaft "T4" jeweils angeordnet und "auf den Weg gebracht". Der Mensch, der angeblich erkrankte bzw. behinderte Mensch, war zur reinen "Verfügungsmasse" instrumentalisiert worden ... 

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Am 05. Oktober 1943 tritt im Schriftverkehr eben auch diese GEKRAT wieder auf den Plan, deren Organisationszentrale unter der Führung eines Herrn Sawall zur Zeit nicht mehr in Berlin sondern in Hösel bei Ratingen/Rheinland war. Die vier Abteilungen der T4-Organisation hatten sich in verschiedene Standorte über das ganze Reich verteilt - aus Tarnungs- und aus Luftschutzgründen. So saß die Abteilung I, dessen Chef Dr. Nitsche war, beispielsweise am Attersee.

Die gesamte Transportorganisation rangierte unter dem Decknamen "Sonderaktion Brandt". Dieses Stichwort findet sich auf allen Briefen der Anstalt Gütersloh an die GEKRAT.

Diese erneute Beteiligung der GEKRAT, die ebenfalls seit 1939/1940 in den Heil- und Pflegeanstalten bekannt war, hat den letztendlich perfiden Zweck der "Verlegungen" in den abgebenden Einrichtungen vor Ort unterstrichen - zumindest aber "angedeutet", dass nicht nur der Luftschutz und der damit vorgetäuschte "Schutz der Patienten vor Kriegseinwirkungen" der alleinige Grund für die Verlegung war.

Zwischen dem 08. Oktober 1943 und dem 13. November 1943 verließen in kurzer Abfolge sieben Transporte mit insgesamt 649 Menschen im Rahmen der "Aktion Brandt" die Anstalt Gütersloh. Diese Zahl übertraf die Verlegungen im Jahre 1941 (350 Patienten) deutlich.

                                       verlegt nach
08.10.1943         60 Frauen Bernburg/Anhalt
14./15.10.1943 160 Männer Warta/Warthegau
18.10.1943         75 Frauen Bernburg/Anhalt
29.10.1943         50 Frauen Bernburg/Anhalt
12.11.1943        100 Frauen Warta/Warthegau
                          39 Männer
12.11.1943          50 Frauen Meseritz/Obrawalde
12.11.1943          50 Frauen Gnesen/Tiegenhof
                           50 Männer
13.11.1943          15 Frauen Bernburg/Anhalt


















Verlegungen aus den westfälischen Provinzial-Heilanstalten von Juni bis November 1943 (nach Walter 1996, S. 764) - Quelle: Heinz Faulstich, Hungersterben, 1998, S.411  - Vergrößern: auf Karte clicken - Gekennzeichnet ist der Abfahrtsort Gütersloh und der Ankunftsort "Tiegenhof/Gnesen" 

Textquelle vornehmlich: Rudolf Hans: Psychiatrischer Alltag im Nationalsozialismus, Hausarbeit, 1983 - und : Bernd Walter: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne, 1996

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