10 - Aufnahme, Diagnose, Antrag auf "Unfruchtbarmachung" ...

Bild: Photographic nach einem Foto von: DLF - Stock.XCHNG / Ryan O'Connor (Detail)



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Heutzutage wären Erna Kronshages Verwirrungen wahrscheinlich als eine vorübergehende
  • "Null-Bock-Phase", eine vorübergehende
  • "Depressive Verstimmung", eine
  • "Anpassungsstörung" als derzeitige "Mode-Diagnose" in der Psychiatrie, ein
  • "Burn-out-Syndrom" als "Überforderung", (seit Kindesbeinen die gleiche eintönige schwere Arbeit bei hoher Begabung), als eine 
  • "postpubertäre Entwicklungskrise (Adoleszenz-Krise)", (Erna Kronshage war noch keine 20 Jahre alt), als
  • "Posttraumatische Belastungsstörung" (Bomben-Angriff auf das Nachbargehöft wie aus "heiterem Himmel") 
eingeordnet worden.

Und was "im Volksmund" womöglich laienhafter aber zutreffender beschrieben worden wäre als:
  • "Jugendwahn",
  • "Grillen im Kopf"
  • "eine Auszeit nehmen", sie würde als
  • "verdreht", als
  • "Überspanntheit" bezeichnet - oder lyrisch-literarisch ausgedrückt:
  • "überwältigt von der Fremdheit vor sich selbst", wie Jürgen Schreiber das für den Maler Gerhard Richters Tante Marianne Schönfelder, einer Schicksalsgenossin Erna Kronshages, im Buch "Ein Maler aus Deutschland" (s. Sidebar rechts) wahrscheinlich sehr zutreffend und einfühlsam formuliert hat.
Diagnose "Schizophrenie" - gestellt von Dr. Norda -
Oberarzt der Provinzialheilanstalt Gütersloh - anclicken
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Aber das alles, was von einem "gesunden Menschenverstand" mit so vielen gewiss harmloseren und vorübergehenden Inhaltsattributen belegt werden konnte und laienhaft als "(nor)mal vorkommend" empfunden wurde - wofür ja auch ausreichend exogene (von außen kommende) Auslösefaktoren aufgezeigt sind - war den damaligen Rassenhygienikern, den studierten praktizierenden NS-Psychiatern in Gütersloh eine überraschenderweise unumstößlich zu diagnostizierende "Schizophrenie", also eine endogene (von innen kommende) Psychose ohne irgendwelche Hinweise bis zu diesem Zeitpunkt auf einen pathologischen längerfristigen „Verfall“ oder gar eine "Persönlichkeitsspaltung" (Schizophrenie = von altgriechisch σχίζειν schizein „abspalten“ und φρήν phrēn „Zwerchfell, Seele“) Erna Kronshages - einfach pauschal als eine damals gängige aber eben rassenideologisch mit fatalen Folgen behaftete Allerweltsdiagnose - innerhalb weniger Stunden "festgestellt" - ebenda von den (ost-) westfälischen "Koryphäen" nationalsozialistischer Psychiatrie, wie Dr. Werner Hartwich, Dr. Werner Norda, Dr. Benno Holthaus, Dr. Siebert, Dr. Brandis, Dr. Pohlmann, Dr. Angenete u.a.  - eine "unheilbare Erbkrankheit" ...

Symbolbild: Untersuchung/Diagnose - verwendetes Foto aus: REMEMBER | Charité



Geradezu errechnet wird die "Schizophrenie" mit dem Erbgesundheits-Rechenschieber auf der "Sippentafel" der Familie Kronshage - wobei nun  der Kurzzeit-Nervenzusammenbruch der Schwester Frieda von fast "ambulanten" 4 Wochen Dauer in 1939 plötzlich "unter diesen Umständen" in ein ganz neues Licht geraten ... - und sogar noch eine "Schwangerschaftspsychose" einer Vorfahrin aus früheren Jahren...

Es ist interessant und grausam zugleich, wie Erna Kronshage aufgrund individueller, familiärer, sozialer und institutioneller Umstände in eine Krise geraten ist, die dann nach nationalsozialistischer Ideologie biolog(ist)isch interpretiert wird. Die Gründe, warum sie in diese Krise kam, werden sich nicht endgültig klären lassen, aber es gibt ein paar Anhaltspunkte, die aber von der aufnehmenden Anstalt nicht erkundet und beachtet werden...

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Foto links: 

Stellte den Antrag auf "Unfruchtbarmachung" Erna Kronshages:
Provinzial-Obermedizinalrat
Dr.med. Werner Hartwich
Direktor der Provinzialheilanstalt Gütersloh
1934-1945





Foto: Titel des Reichsgesetzblattes vom 25.Juli 1933: Veröffentlichung des
 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwucheses. Vom 14.Juli 1933
- In Kraft getreten am 01.Januar 1934


Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde bereits kurze Zeit nach der Machtergreifung am 14. Juli 1933 als erstes Rassegesetz verabschiedet und trat im Januar 1934 in Kraft. Die Nationalsozialisten wollten, dass die Opfer des Gesetzes keine Möglichkeit hatten, der einmal beschlossenen Sterilisierung zu entgehen. 
Die Idee des Gesetzes war durch und durch rassistisch: "Ziel der dem deutschen Volk artgemäßen Erb- und Rassenpflege ist: eine ausreichende Zahl Erbgesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller, kinderreicher Familien zu allen Zeiten. Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassengedankens. Die künftigen Rechtswahrer müssen sich über das Zuchtziel des deutschen Volkes klar sein." 
So der Kommentar: Gütt, Arthur - Rüding, Ernst - Ruttke, Falk: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen, 2. Auflage München 1936, S. 55.

(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden
(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
•angeborenem Schwachsinn,
•Schizophrenie,
•zirkulärem (manisch-depressivem Irresein),
•erblicher Fallsucht,
•erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
•erblicher Blindheit,
•erblicher Taubheit,
•schwerer erblicher körperlicher Missbildung.
•(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.

Dr. Werner Hartwich, der Direktor der Provinzialheilanstalt Gütersloh, stellt also am 11. Februar 1943 von amtswegen den Antrag auf "Unfruchtbarmachung", da die diagnostizierte "Schizophrenie" als eine "Erbkrankheit" dargestellt ist.

































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  • Reproduktionen aus der Kopie der Erbgesundheitsgerichtsakte zum Verfahren der Zwangssterilisation von Erna Kronshage - 
  • Antrag, Aufnahme, Diagnose, Psychischer Befund:



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Zu diesen Notierungen sei festzuhalten, dass Erna Kronshage in ihrem bis dahin kurzen Leben noch nie von Zuhause fort war - dass sie die gängigen zeitgemäßen Konventionen bei einem Aufenthalt in Krankenhäusern, Kliniken, Anstalten usw. nicht kannte. Erna war gesellschaftlich ungewandt - sie war schüchtern, voller Scham über das, was ihr da geschah - und völlig ungeübt im Umgang mit Fachautoritäten, Parteigrößen usw. 






Zu diesem oben geschilderten Phänomen - durchaus ja einem "Déjà-vu" ähnelnd - schreibt WIKIPEDIA 2014: 
Als Déjà-vu [deʒaˈvy] (frz. „schon gesehen“) bezeichnet man ein psychologisches Phänomen (psychopathologische Bezeichnung: qualitative Gedächtnisstörung), das sich in dem Gefühl äußert, eine neue Situation schon einmal erlebt, gesehen, aber nicht geträumt zu haben.
  • Ein Déjà-vu tritt beim gesunden Menschen vereinzelt spontan, im Zustand der Erschöpfung oder bei Vergiftungen (vor allem mit Nervengiften wie Ethanol oder halluzinogenen Drogen - [Einschub: sicherlich auch nach plötzlicher Cardiazol-Behandlung zur Auslösung epileptischer Anfälle]) gehäuft auf... 














Zu diesen Ausführungen fällt auf, dass wiederholt positiv formuliert wird: ..."etwas ruhiger" ... - bzw. "Heute im ... ganzen ruhiger" ... - was aber z.B. "gelegentlich immer wieder durch lautes Reden" ... "gestört" - würde - wobei man sich fragt, wer oder was da "gestört" wird beim "Kartoffelschälen" ... - Und was dabei als ein pathologisch-schizophrener Zustand festzustellen ist ...???  




Fotos: Provinzialheilanstalt Gütersloh Luftbild 1936, Gütersloh: Frauen-Abteilungen (Letztere zeitgen. Ansichtskarten)













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Den NS-Psychiatern in Gütersloh ist im Falle Erna Kronshage heutzutage vorzuwerfen, dass damals die offensichtlichen exogenen (von außen kommenden) Faktoren, die eine psychische Verstimmung und damit eventuelle quasi ambulante Hilfsbedürftigkeiten auslösen konnten, insgesamt negiert und ignoriert wurden - bzw. gar nicht exploriert und ins Kalkül gezogen wurden - dagegen wie einseitig verblendet im nationalsozialistischen Eugenikwahn alle endogenen (von innen heraus aufkeimenden) "genetischen" Auslösemöglichkeiten einer (auch in der NS-Psychiatrie als endogene Erkrankung definierte) SCHIZOPHRENIE passend gemacht und zurechtkonstruiert wurden, mittels "Sippentafel" und jedem vorfindbaren Zipfelchen an noch so vager Interpretationsmöglichkeit - einzig im Sinne der gemäß dem psychiatrischen Zeitgeist wegweisenden Rassenlehre ...

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Beschreibungen eines an "Schizophrenie" erkrankten Menschen in der heutigen Zeit finden Sie hier -
und hier
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Eine Möglichkeit
ist es, dass Erna Kronshage "hochsensibel" war, also alle Außenreize besonders verarbeiten musste.
So - oder ähnlich - wurde sie noch von lebenden Zeitzeugen beschrieben - bzw. die "Aktenlage" lässt einen solchen Schluss ebenfalls zu...
Lies dazu diesen "SPIEGEL"-Aufsatz aus 3/2020: click here or here




  • ... und - heutzutage endlich ein Licht am Ende Tunnels: 
Der "Recovery-Ansatz" in der Psychiatrie setzt sich allmählich durch - Lesen Sie unbedingt hier eine Einführung mit dem Titel
Vom demoralisierenden Pessimismus zum vernünftigen Optimismus - Eine Annäherung an das Recovery-Konzept - Von Andreas Knuf
... auf die Karikatur clicken ....



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